In den letzten Jahren ist der Begriff der institutionellen Engpässe im Entwicklungsprozess des Landes häufig erwähnt worden.
Diese Formulierung ist vielleicht nicht präzise genug. Der eigentliche, tiefer liegende Engpass ist das Denken – genauer gesagt, das Denken über Macht, den Gegenstand von Institutionen.
Wenn sich Institutionen nur auf Dokumente, Gesetze und Verordnungen beschränken, ohne eine grundlegende Veränderung des Denkens, schaffen sie nur neue Formen, aber kein neues Handeln.
Institutionen sind der Körper, aber das Denken ist das Gehirn. Ohne ein verändertes Denken bleiben Institutionen nur ein leeres Gerüst, das sogar zu einer Barriere für die Entwicklung werden kann, die sie eigentlich fördern sollen.
Konkret: Damit eine Institutionenreform gelingt, muss sich das Denken über die Staatsmacht – das Subjekt der Reform – ändern. Lange Zeit wurde Macht von vielen Amtsträgern oft als ein natürliches Privileg verstanden, das von oben nach unten verliehen wird, vom Staat an das Volk.
Dieses Denken erzeugt ein Verwaltungshandeln, bei dem Bürger:innen und Unternehmen bitten und empfangen müssen, sie müssen gehorchen, während Amtsträger Macht haben, weil sie vorschreiben und befehlen können.
Wenn sich dieses Denken nicht ändert, werden alle Institutionenreformen, selbst mit vielen neuen Gesetzen, nur die Bürokratie mit neuen Verfahren aufblähen.
Wird die Staatsmacht hingegen anders betrachtet – nämlich als ein Auftrag des Volkes – kehrt sich das Verhältnis um.
Dann dient Macht nicht mehr der Unterdrückung, sondern dem Service; nicht der Festigung der Position des Amtsträgers, sondern der Zufriedenheit der Unternehmen sowie dem Glück und Wohlstand der Menschen.
Ein wahrhaft mächtiger Amtsträger ist nicht einer, den Bürger fürchten oder den Unternehmen umwerben müssen, sondern einer, der einen positiven Einfluss auf das Markt- und Sozialleben ausübt. Diese Macht ist mit Respekt verbunden, nicht mit Beklommenheit oder Furcht. Die Staatsmacht wird vom Volk verliehen, nicht erzwungen.
Ein Blick zurück in die Geschichte der Wirtschaftserneuerung seit 1986 – Đổi Mới (Erneuerung) 1. Die Erneuerung gelang damals, weil es einen revolutionären Wandel im Denken gab: eine Veränderung im Denken über die wirtschaftlichen Akteure des Landes.
Private Unternehmen und freie Märkte wurden nicht länger als ausbeuterisch angesehen, sondern begannen, als essentielle Motoren der Entwicklung betrachtet zu werden.
Ohne diesen entscheidenden Wandel hätte es niemals die Akzeptanz einer Mehrsektorenwirtschaft, das Freisetzen von Produktionspotenzialen oder das spektakuläre Wachstum der folgenden drei Jahrzehnte gegeben. Diese Lehre zeigt: Vor der Reform der Institutionen muss die Reform des Denkens kommen.
Selbst der Wandel im Denken über den Markt und Unternehmer:innen – die Grundlage des Đổi Mới von 1986 – war kein einfacher.
Bis heute muss der Staat weiterhin dazu aufrufen, den Privatsektor als eine Säule der Wirtschaft zu betrachten. Das zeigt, dass ein Wandel im Denken immer ein „mühsamer“ Prozess ist, nicht leicht.
Die Veränderung der Wahrnehmung von Macht wird ähnlich schwierig sein, da diejenigen, die vom Status quo profitieren, stets eine Kraft sind, die Reformen widersteht. Aber wenn der Wandel im Machtdenken nicht klar benannt und entschlossen verfolgt wird, kann die Institutionenreform kaum gelingen.
Solche Denkveränderungen sind nicht nur auf der Makroebene richtig, sondern auch in vielen konkreten Bereichen präsent. Man betrachte, wie sich die Sicht der Gesellschaft auf vulnerable Gruppen geändert hat.
Einst wurden Sexarbeiter:innen als „Prostituierte“ bezeichnet und als Überbleibsel des alten Regimes angesehen. Nach Festnahmen wurden sie mit abwertenden Begriffen belegt, als Menschen, die ihre „Würde zurückgewinnen“ müssten.
Erst als sich die Wahrnehmung änderte und man sie als Menschen sah, die ihren Lebensunterhalt verdienen und Unterstützung brauchen, wurden die Politiken humaner und fairer.
Ähnlich wurden Drogenkonsumenten einst als Kriminelle gesehen. Als das Denken sich wandelte und man sie als Opfer betrachtete, die medizinische und psychologische Hilfe benötigen, wurden Präventionspolitiken wirklich effektiv.
Auch die Bildung ist ein Beleg. Seit Jahrzehnten finden kontinuierlich Reformen statt, doch die Gesellschaft bleibt unzufrieden.
Der tiefere Grund ist nicht ein Mangel an Beschlüssen oder neuen Programmen, sondern das Versäumnis, das Denken über das „Produkt“ der Bildung zu ändern.
Wenn das Ziel immer noch darin besteht, gehorsame, fügsame Menschen auszubilden, führt das unweigerlich zu Auswendiglernen, schematischem Schreiben und einer Generation ohne kritisches Denkvermögen. Erst wenn sich die Wahrnehmung ändert – und man das Produkt als freie, kreative Menschen sieht, die zu denken und zu hinterfragen wagen – wird die Reform an die Wurzel gehen.
Es muss betont werden: Das Denken über Macht zu ändern, bedeutet nicht, den Staat zu schwächen.